Italien nach dem Todesfall: “The Show must go on”
Ein Monat ist seit den Ausschreitungen von Catania vergangen und fast alle italienischen Stadien sind inzwischen zumindest wieder für die Dauerkartenbesitzer geöffnet. Ein Blick auf die Entwicklung in den italienischen Kurven.
Nachdem eine Woche lang das Skandalspiel, die Gewalt beim Fußball und der Tod des Inspektors Filippo Raciti die Berichterstattung in den Medien dominiert hatten, wurde das Thema durch politische Ereignisse im Land aus den Schlagzeilen verdrängt. Ob die Furcht vor neuer Gewalt von Links nach der Verhaftung von möglichen Mitgliedern einer Brigate Rosse-Nachfolgeorganisation, eine Großdemonstration gegen die geplante amerikanische Airbase in Vicenza oder schließlich der Regierungskrise Romano Prodis – Italien erlebt momentan unruhige Zeiten.
So konnte der Fußball ein wenig zu Ruhe kommen und Verbandspräsident Matarrese hatte es bereits angekündigt: Die Show muss weitergehen. In vielen Stadien zwar zunächst nur vor verschlossenen Türen, aber dafür zeigte das Pay-TV alle Spiele live. Während die den Medien und dem Verband so wichtige ungestörte Fortsetzung der Meisterschaft schon wenige Tage nach den Vorfällen beim sizilianischen Derby außer Frage stand, ist die Zukunft der italienischen Kurven noch ungewiss, was sich auch in den verschiedenen Reaktionen auf die Ereignisse der letzten Wochen zeigt.
Die erste öffentliche Verlautbarung einer Gruppe erfolgte von Seiten des Settore Crociato (Parma) nur einen Tag nach den Ausschreitungen und drückte das Verlangen der Gruppe aus, ihren Respekt vor dem Toten - und allen anderen bei Fußballspielen der letzten Jahre ums Leben gekommenen Personen - durch Schweigen zu manifestieren, „ein Schweigen, das uns nachdenken lässt, mit dem Ziel, dass dieser Sport wieder der wird, der er war, der, in den wir uns als Kinder verliebten“. Die Gruppe forderte in diesem und einem wenige Tage später veröffentlichten zweiten comunicato beide Seiten - Kurven und Polizei - auf, die Waffen ein für alle mal niederzulegen, um weitere Tragödien zu verhindern.
Graffitis heizen die Diskussion an
Die überlegt formulierten Worte der Gruppe („Wenn wir wollen, dass die anderen sich ändern, müssen wir ein Beispiel geben und uns zuerst ändern.“) fanden in der Öffentlichkeit kaum Widerhall, zumal in der folgenden Nacht erneut Fans für negative Schlagzeilen sorgten: In Livorno und Piacenza wurden Parolen gegen die Polizei und den Ermordeten an Häuserwände gesprüht, was sich in den Tagen darauf in mehreren Städten, unter anderem in Neapel, Salerno, Genua und Rom, wiederholen sollte. Die verbalen Entgleisungen waren ein gefundenes Fressen für die Medien, die auch Interviews mit Ultras veröffentlichten, die ihre Freude über den Tod des Polizisten bekannt gaben und geradezu um mehr Repressionen zu betteln schienen. Von allen Seiten hieß es, Italien müsse wie England nach Heysel lernen und die dort ausgeübten Methoden anwenden.
Mit den erwähnten Schriftzügen in eine Schublade gesteckt wurde dabei von vielen Medien das zwei Tage nach Catania am Stadion von Bologna erschienene Graffiti: „Wenn das Opfer ein Ultrà ist, gibt es keine Nachricht. Der Tod ist nicht für alle gleich!“ Die Botschaft richtete sich im Gegensatz zu denen aus Livorno und Piacenza nicht gegen den Toten, sondern wollte auf die in den letzten Jahren von der Polizei getöteten oder verletzten Fans hinweisen. So verständlich der Ärger der Kurven über die oft gewaltsamen Repressionen der Polizei in vielen Fällen auch sein mag -angefangen beim 1984 von Polizisten zu Tode geprügelten Triestiner Stefano Furlan bis hin zum Brescianer Paolo, der vor anderthalb Jahren von der Veroneser Polizei grundlos ins Koma geprügelt wurde - erschien der Schriftzug von Bologna zu diesem Zeitpunkt doch ebenfalls deplatziert, zumal die Verlautbarung des Settore Crociato gleichzeitig zeigte, wie eine konstruktive Lösung der Situation aussehen könnte. Berechtigt bleibt natürlich die Kritik an Medien und Verband, die auch dem nur eine Woche zuvor auf dem Spielfeld getöteten Sportdirektor einer Amateurmannschaft, Ermanno Licursi, kaum mehr Aufmerksamkeit als einer lästigen, aber irgendwie dazugehörenden Begleiterscheinung gewidmet hatten. Dennoch hätte zweimal Unrecht auch hier sicherlich kein Recht ergeben.
Staat und Verband wollen Härte zeigen
Nach den Geschehnissen in Catania musste etwas geschehen, das war jedem klar, der die erschreckenden Bilder dieses Abends sah. Ein Spielstop und eine Denkpause waren logische und, wenn sie dauerhafte Wirkung und Konsequenzen gehabt hätten, auch richtige Folgen - die einsetzende Medienhysterie mit der pauschalen Kriminalisierung der Ultrabewegung waren es hingegen nicht.
Auf den teilweise drastischen und entsprechend öffentlichkeitswirksamen Maßnahmenkatalog der Regierung und des Verbandes, der unter anderem das Verbot aller organisierten Auswärtsfahrten, eine Orientierung am „englischen Modell“, „vorbeugende“ Stadionverbote und Verbote von Spruchbändern beinhaltet, folgte ein gemeinsames comunicato der Curva Nord (Inter), der Viking (Juve) und der Guerrieri Ultras (Milan), das diesen kritisiert. Die Gruppen warnten vor einer Kriminalisierung der Ultras durch die Medien und forderten größere Eigenverantwortung und verbilligte Sonderzüge, ermahnten aber auch die Medien zu einer weniger manipulativen Berichterstattung. Weiterhin verlangten die Ultras der Großvereine, deren Kurven nach Schätzungen etwa zwei Millionen Euro Umsatz pro Jahr machen, eine genaue Untersuchung der Umstände des Todes von Filippo Raciti.
Immer wieder war nämlich das Gerücht zu hören, Raciti sei von einem Tränengasgeschoss eines eigenen Kollegen getroffen worden. In der Tat bestätigte ein Arzt, der bei den Wiederbelebungsversuchen anwesend war, dass Racitis Atmung durch das Tränengas gestört gewesen sei. Dass die Polizei im Stadioninneren große Mengen an Tränengas in die Kurve schoss, geht ebenfalls aus Augenzeugenberichten und Fernsehbildern hervor. Das Tränengas mag also seinen Teil zu den Geschehnissen beigetragen haben, dass Raciti den tödlichen Stoß in Wahrheit durch ein Geschoss erhielt, erscheint nach den Untersuchungen aber eher unwahrscheinlich. Selbst wenn dem so wäre, würden die Ausschreitungen von Catania in keinem anderen Licht erscheinen: Die herausgerissenen Toiletteneinrichtungen - Raciti wurde vermutlich mit einer Waschbeckenstütze der tödliche Leberdurchbruch zugefügt – lassen sich nicht relativieren und es ist nicht zu vergessen, dass außer dem getöteten Inspektor etwa 70 weitere Polizisten verletzt wurden, von denen einer am Boden liegend zusammengetreten wurde und nur mit großem Glück lebend davon kam.
Der Tränengaseinsatz der Polizei in Catania mag, wie viele andere ähnliche Einsätze auch, zu kritisieren sein, umso mehr, wenn er mitschuldig am Tod des zweifachen Familienvaters gewesen sein sollte, als mildernder Umstand oder gar Rechtfertigung darf er auf keinen Fall gelten. Es hätten andere Polizisten sterben können, es hätten mehrere Polizisten sterben können, es hätten erneut Fans durch Tränengasgeschosse in Kopfhöhe sterben können, es hätten aber auch schon bei vorherigen Krawallen, man denke nur an das Pokalspiel Napoli vs. Roma der vergangenen Saison, Carabinieri sterben können. Dass es Filippo Raciti getroffen hat war letztendlich wohl ein tragischer Zufall. Aber Zufälle sind nun mal weniger attraktiv als Verschwörungstheorien – für die eine („Die Fans wollten genau Filippo Raciti töten“) wie für die andere Seite („Raciti wurde von seinen eigenen Kollegen getötet.“).
Fußball vor leeren Rängen
Unterdessen fand der erste Spieltag „nach Catania“ statt. Über die Pfiffe der Römer Ultras während der Schweigeminute für Raciti ist bereits an anderer Stelle berichtet worden. Die Verantwortlichen gesetzlich verfolgen zu lassen, ist sicherlich nur schwer mit dem Recht auf freie Meinungsäußerung zu vereinbaren. Der Öffentlichkeit allerdings zu erklären, dass die Ultrakultur bewahrenswert ist, dürfte durch solche Aktionen noch schwerer werden.
Ein Großteil der Begegnungen fand ohnehin vor verschlossenen Türen statt, jedoch gab es gleich mehrere Gruppen, die ihre Aktivitäten auf unbestimmte Zeit einstellten. Zu ihren Motiven äußerten sich dabei deutlich die Brescia 1911: „Nach dem Tod Filippos ist es nötiger als je zuvor, dass sich alle selbst in Frage stellen und sich einer Selbstkritik unterziehen. (...) Wir hoffen, dass auch andere unserem Beispiel folgen und beginnen, über den Wert des menschlichen Lebens nachzudenken, sei es das eines Polizisten, oder eines Fans.“ Die Gruppe traf damit eine Entscheidung, die Liga und Verband nicht zu treffen bereit waren. Eine ähnliche Erklärung erging von den Ultragruppen in Ancona, die in der vergangenen Woche auch die Gästefans aufforderten, die Spiele ihrer Mannschaften in Ancona nicht im Stadion zu verfolgen, während die Ultras Tito Cucchiaroni erklärten, künftig während der ersten 45 Minuten jeder Begegnung ihre Unterstützung einzustellen. Bis zu einer Klärung der Lage entschlossen sich auch die Ultras Granata (Torino) ihre Aktivitäten auszusetzen, während die Ultragruppen in Bologna aus Protest gegen die geplanten Maßnahmen und die Kriminalisierung der Bewegung das Heimspiel gegen Piacenza vergangene Woche komplett schweigend verbrachten.
Beim folgenden Auswärtsspiel der Emilianer in Rimini wurde bereits im Vorfeld bekannt, dass das historische Banner der Forever Ultras nicht im Gästesektor aufgehangen werden dürfte, weswegen die Gruppen geschlossen vor dem Block blieben. Auch ihre Lokalrivalen aus Cesena entschlossen sich aufgrund der unklaren Lage - es heißt, schon unerwünschte Chöre könnten ein präventives Stadionverbot nach sich ziehen! - zu einem Boykott beim Heimspiel gegen Vicenza. Die Gruppen der Curva Mare wiesen ebenfalls auf die Notwendigkeit eines Selbstreinigungsprozesses innerhalb vieler Gruppen hin, bekräftigten aber ebenfalls, nicht aufgeben zu wollen, um den Weg für den modernen Fußball nicht endgültig freizugeben. Die Boys S.A.N. Inter hingegen wollen mit Hilfe eines Anwältepools ein Referendum zur Abschaffung aller nicht verfassungskonformen Punkte der Regierungsmaßnahmen erreichen, insbesondere der präventiven Stadionverbote.
Dort, wo vor verschlossenen Türen gespielt wurde, versammelten sich an den letzten Spieltagen Fans oft vor den Toren des Stadions, so geschehen etwa bei den Drittligabegegnungen Perugia vs. Avellino und Salernitana vs. Teramo, bei denen jeweils auch Gästefans vor Ort waren. Die Taranto Supporters bieten hingegen allen Gästefans an, sie mit Karten zu versorgen, was bereits 15 Mitgliedern der Ultras Lanciano ermöglichte, ihre Mannschaft auch auswärts zu sehen. Die meisten Stadien werden zurzeit mit den Sicherheitsnormen in Übereinstimmung gebracht, so dass bald wohl wieder die meisten Begegnungen frei der Öffentlichkeit zugänglich sein werden.
Die Show muss weitergehen – aber haben die Ultras noch einen Platz in der Show?
Die Anführer von 16 führenden und für ihre authentische Ultramentalität bekannten Gruppen trafen sich in Bergamo, um miteinander zu diskutieren und vereinbarten schließlich eine Art „Waffenstillstand“. Demzufolge sollen künftig keine Knallkörper, Messen oder Waffen anderer Art eingesetzt werden. Die Vertreter der Ultras aus Genua (beider Teams!), Verona, Florenz, Udine, Neapel, Bari und anderen Orten beschlossen außerdem, sich gegenseitig bei der Beschaffung von Eintrittskarten bei Auswärtsspielen behilflich zu sein. Ausdrücklich nicht am Treffen beteiligt waren Gruppen, die im Verdacht stehen, in erster Linie kommerziell aktiv zu sein (Milan, Inter, Juve) oder in der Kurve Politik zu betreiben (Lazio, Livorno). Die Zusammenkunft und ihre Beschlüsse sind sicherlich begrüßenswert, allerdings wird sie wohl kaum diejenigen Teile der Kurve erreichen, die sich das Waffenverbot etwa besonders zu Herzen nehmen sollten.
Eine der Gruppen, die sich am stärksten für die gesamte Bewegung einsetzt, sind die Ultrà Lodigiani. Die Ultras der ehemaligs dritten römischen Mannschaft versuchen, eine gemeinsame Kundgebung aller italienischen Gruppierungen durchzuführen. Geplant ist, an einem Spieltag auf die jeweiligen Spiele zu verzichten und geschlossen in Rom zu demonstrieren: „Wir glauben, dass der Moment gekommen ist, zum ersten Mal eine Versammlung auf nationaler Ebene einzuberufen“, schreiben die Ultras, die bewusst alle einladen und jegliche politische Konfrontation auf der Veranstaltung vermeiden wollen. Bisher haben schon etwa 60 Gruppierungen ihre Zusage gegeben, in erster Linie von der Serie C abwärts. Die großen Kurven des Landes konnten bisher indes noch nicht erreicht werden.
Ultras am Scheideweg?
Eine weitere Versammlung wurde in der vergangenen Woche von den traditionsreichen Ultras des Fünftligisten Cosenza durchgeführt. Hierzu waren alle Gruppen der Staffel I der Serie D eingeladen. Bei der Diskussion beschlossen die Vertreter von elf Vereinen (darunter auch größere Gruppen wie Siracusa oder Licata), sich für ein gemeinsames Netzwerk aller Kurven des Landes einzusetzen und die eigenen Mitglieder zu Fairness und Verantwortung zu erziehen. Außerdem sollen alle beteiligten Kurven demnächst durch das Banner „Für ein Ideal vereinigt: Ultras sind keine Verbrecher!“ zusätzlich geschmückt werden.
Breit gefächert wie die Reaktionen auf die Geschehnisse der letzten Wochen in den Kurven sind auch die Spekulationen, die sich über die Zukunft anstellen ließen. Möglich, dass - ähnlich wie beim Manipulationsskandal im Sommer - in einigen Wochen (fast) alles wieder beim Alten ist und die Maßnahmen nur in deutlich abgeschwächter Form stattfinden. Es liegt jedoch zumindest zu einem gewissen Teil auch bei den Kurven selbst, zu einer moralischen Erneuerung zu finden, wie es einige Gruppen, wie erwähnt, vormachen, für die die Show nicht einfach weitergeht. Denn nach den Geschehnissen von Catania ist eins klar: Ein weiterer negativer Vorfall und eine Entwicklung wie in England nach 1985 dürfte nicht mehr aufzuhalten sein, zu negativ ist bereits jetzt das öffentliche Image der Ultras.
Die Öffentlichkeit wäre gut beraten, der Curva Nord Cosenza, die Waffengewalt immer abgelehnt hat, Aufmerksamkeit zu schenken: „In England ist der Fußball aufgrund der Eintrittspreise ein Spektakel für die Eliten geworden; die Gewalt ist nicht vernichtet, sondern außerhalb der Stadien verlagert worden. (...) Wenn wir hören, dass der Fußball krank ist, kommt uns die Idee, dass die Gesellschaft krank sein könnte. (...) Die Gewalt ist nicht in den Kurven, sondern in der Gesellschaft!“ (Stadionwelt/Matthias Bürgel, 08.03.2007)
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